Friday, August 14, 2015

Das Anna und ihr Hund – Weibliche Rufnamen im Neutrum

http://www.namenforschung.net/weibliche-rufnamen-im-neutrum/projektvorstellung/

Soziopragmatische vs. semantische Genuszuweisung in Dialekten des Deutschen und Luxemburgischen

In der Regel gilt im Deutschen das sog. natürliche Geschlechtsprinzip, d.h., Personenbezeichnungen (die Mutter – der Vater) und Personennamen (die Anna – der Otto) weisen strikte Genus-Sexus-Korrelationen auf: Die im jeweiligen Lexem bzw. Rufnamen enthaltene biologische Geschlechtsinformation (Sexus) steuert das grammatische Geschlecht (Genus). In deutschen Dialekten und im Luxemburgischen gibt es davon gravierende Abweichungen. Hier können (nicht-diminuierte) weibliche Personen- und teilweise auch Verwandtschaftsnamen im Neutrum stehen – erkennbar am Definitartikel, den sie (v.a. im Ober- und Mitteldeutschen) obligatorisch mit sich führen, z.B. dat/et/s Anna, s Tante/s Mama (bei männlichen Personennamen ist eine solche Genus-Sexus-Inkongruenz ausschließlich aus einigen wenigen südalemannischen Dialekten bekannt). Dabei gibt es auch Dialekte, in denen das am Artikel markierte Genus nicht mit dem eines anderen Genusträgers – wie zum Beispiel dem Possessiv- oder Personalpronomen – übereinstimmen muss  (z.B. das Anna und ihr Hund). Entgegen der landläufigen Bewertung werden diese neutralen Formen in den jeweiligen Dialekten nicht prinzipiell als degradierend wahrgenommen, sondern im Gegenteil als „normal“ oder sogar als sympathisch-vertraut. Die Namenneutra sind bisher unerforscht, in ihrer genauen Verbreitung unbekannt und im Abbau begriffen.
Nach: Elspaß/Möller (2003ff.): Atlas zur deutschen Alltagssprache (ADA). URL:www.atlas-alltagssprache.de/artikelform
Die Karte zeigt das ungefähre Verbreitungsgebiet dieses Phänomens, erfasst aber lediglich die deutsche Alltagssprache und nicht die Basisdialekte. Das Hauptverbreitungsareal scheint im Westmitteldeutschen einschließlich des Luxemburgischen zu liegen. Das Saarländische, Pfälzische und Moselfränkische bis hin zum Hunsrück dürften den Schwerpunkt bilden (hier verfügt noch die jüngere Generation über den Neutrumgebrauch). Doch reicht das Verbreitungsgebiet darüber hinaus bis weit ins Ripuarische und Nordhessische hinein, basisdialektal auch ins Münsterländische. Nach Süden hin ziehen sich die Neutra den Rhein entlang und münden in die Schweiz.
Das Projekt soll die dialektalen bundes- und schweizerdeutschen sowie luxemburgischen Genussysteme mit neutraler Referenz auf Mädchen und Frauen erstmals in ihrer heute noch greifbaren dialektalen Ausdehnung erfassen. Vor allem sollen an 32 Ortspunkten sog. Tiefenbohrungen stattfinden, die das komplexe Geflecht an soziopragmatischen Faktoren wie dem Alter der benannten Frau, ihrem Sozialstatus, ihrem Familienstand, dem Grad an Vertrautheit bzw. sogar Verwandtschaft zwischen ihr und dem/der Sprecher/in etc. detailliert erfassen. Hierdurch soll letztendlich die Entstehung dieses paradoxen Phänomens geklärt werden. Auch sind damit theoretische Erkenntnisinteressen verbunden, handelt es sich hierbei doch um eine bis dato unbekannte und unerforschte Genuszuweisungsart.

Literatur

Christen, Helen (1998): Die Mutti oder das Mutti, die Rita oder das Rita? Über Besonderheiten der Genuszuweisung bei Personen- und Verwandtschaftsnamen in schweizerdeutschen Dialekten. In: Schnyder, A. et al. (eds.): Ist mir getroumet mîn leben? Vom Träumen und vom Anderssein. Göppingen, 267-281.

Nübling, Damaris/Busley, Simone/Drenda, Juliane (2013): Dat Anna und s Eva – Neutrale Frauenrufnamen in deutschen Dialekten und im Luxemburgischen zwischen pragmatischer und semantischer Genuszuweisung. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 80/2, 152-196.

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